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AM HIMMELSRAND
Klänge des Lichts
Bilder von Harald Häuser zur Messe in h-moll von J. S. Bach
in der Lutherischen Pfarrkirche St. Marien, Marburg
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Eine Ausstellung von Harald Häuser
im Zusammenhang mit der Aufführung
der Messe in h-moll von J. S. Bach
durch die Kurhessische Kantorei Marburg
Idee und Koordination: Ulrike Paulus-Jung

  Vernissage: 22. Februar 2023 um 17.30 Uhr  
 Einführung: Prof. Dr. Rainer Kessler  

 Passionsandachten mit Kunstbetrachtung und Improvisationen  
 von LKMD Uwe Maibaum und Konzertorganistin Ka Young Lee  
 jeweils mittwochs 19.00 - 19.30 Uhr  
01. März Pfarrerin Andrea Wöllenstein
08. März Dekan Dr. Burkhard von Dörnberg
15. März Prof. Dr. Gerhard Marcel Martin
22. März Pfarrer Ulrich Biskamp
29. März Pfarrerin Annika Hofmann

 Kunstgottesdienst am Sonntag Judika,  
26. März um 10 Uhr  
Pfarrerin Dr. Anna Karena Müller und Pfarrerin Martina Löffert

Aufführung der Messe in h-moll am 24. Juni
Musikalische Gestaltung:
Landeskirchenmusikdirektor Uwe Maibaum

Ausstellungskonzeption: Harald und Gudrun Martha Häuser


  
Die h-moll-Messe als Gesamtkunstwerk
Zur Aufführung von Johann Sebastian Bachs h-moll-Messe und Harald Häusers Ausstellung
„Am Himmelsrand. Klänge des Lichts“
von Rainer Kessler

Anders als Johann Sebastian Bachs populäres Weihnachtsoratorium oder seine nicht minder gern gehörten Passionen orientiert sich die h-moll-Messe nicht an der heiligen Geschichte; sie erzählt weder das Geschehen um die Geburt noch um Leiden und Tod Jesu Christi. Ihre „Geschichte“ ist der liturgische Ablauf der Messfeier. Am Anfang stehen das Kyrie („Herr, erbarme dich“) und Gloria („Ehre sei Gott in der Höhe“). Über das Glaubensbekenntnis geht es zum Sanctus („Heilig, heilig“). Der letzte Teil schließlich zielt hin auf die Friedensbitte (Dona nobis pacem, „Gib uns Frieden“), mit der der Gottesdienst endet. Bach hat jedes einzelne Element der Messe in eine musikalische Form gebracht, die Verstand und Gemüt in gleicher Weise herausfordert. Genannt seien nur der Beginn mit dem „Aufschrei“ am Anfang des ersten Kyrie, gefolgt von einer schier endlosen Fuge; das Sanctus mit seinem Triolenrhythmus, der das Wogen der himmlischen Heerscharen symbolisiert, die sich das „Heilig, heilig“ zusingen; und der Schlusschoral, das „Gib uns Frieden“, das die Messe ebenso ruhig wie feierlich – in den letzten Takten kommen die Trompeten dazu – ausklingen lässt. Walter Blankenburg, von 1947 bis 1973 Landeskirchenmusikdirektor der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, hat angesichts der h-moll-Messe von „einem einzigartigen christlichen Gesamtkunstwerk“ gesprochen.
Doch auch wenn die h-moll-Messe sich am Ablauf der Messfeier orientiert: Der christliche Glaube kommt ohne Geschichte nicht aus. Und so findet sich auch in der h-moll-Messe die Geschichte Gottes mit der Welt und den Menschen wieder. Ihr Ort ist das Glaubensbekenntnis, das Credo. In der h-moll-Messe ist dies nicht wie im gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst das so genannte Apostolische Glaubensbekenntnis, sondern das Symbolum Nicenum, das Nizänische Glaubensbekenntnis, wie es auf dem Konzil von Konstantinopel im Jahr 381 n.Chr. festgelegt wurde. Die Geschichte, die es erzählt, beginnt mit dem Bekenntnis zu Gott, „der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt“, geht über die Mitte der Zeit im Kommen Jesu Christi und verweist auf das Ende in der erwarteten Wiederkunft des Messias: „und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein.“ Zwischen Anfang und Ende spannt sich die Geschichte, in der der Heilige Geist „gesprochen hat durch die Propheten“ und in der „heiligen, christlichen und apostolischen Kirche“ wirkt.
Es ist überwiegend dieser Teil der h-moll-Messe, den der zeitgenössische Künstler Harald Häuser, geboren 1957 in Marburg, als Vorlage für seine Bilderfolge nimmt. Er gibt ihr den Titel „Am Himmelsrand. Klänge des Lichts“. Nur zwei der neun Gemälde haben Titel, die nicht dem Credo entnommen sind, das „Agnus Dei“ (Lamm Gottes) und das Bild „... et in terra pax“ (und auf Erden Friede). Die übrigen sieben folgen dem Glaubensbekenntnis: eines dem ersten Artikel (Gott der Vater): „... der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt“; fünf Bilder orientieren sich am zweiten Artikel (Gott der Sohn): „Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“ – „... hat Fleisch angenommen“ – „Er wurde für uns gekreuzigt“ „... hat gelitten und ist begraben worden, ist … auferstanden“ – „... und aufgefahren in den Himmel“; und wieder eines folgt dem dritten Artikel (Gott der heilige Geist): „wir erwarten die Auferstehung der Toten“.  
Einzelne der ausgestellten Bilder sind schon früher entstanden und trugen da andere Titel, die man auf der Homepage von Harald Häuser finden kann. Damit wendet der Künstler in kongenialer Weise genau das Verfahren an, dem auch Bach bei der Komposition der h-moll-Messe gefolgt ist. Mehr als zwei Drittel dieses Werks nämlich sind so genannte Parodien. Dabei werden Stücke, die für einen anderen Zusammenhang komponiert wurden, mit einem neuen Text versehen in das neue Werk aufgenommen. Genau so verfährt Häuser bei den genannten Beispielen: Er nimmt vorhandene Bilder und stellt sie in einen neuen Zusammenhang. Dieser neue Zusammenhang, und nur dieser, ist für die Interpretation bestimmend. Hergestellt wird dieser Zusammenhang mit Hilfe der Bildtitel. Deshalb sind diese so wichtig.
Neun Bilder also zu Textfragmenten aus der h-moll-Messe zeigt Harald Häuser. Es sind abstrakte Bilder. Wer jemals Bilder Häusers gesehen hat, wird nichts anderes erwarten. Damit aber stehen wir direkt vor der Leitfrage zur Interpretation der gezeigten Bilder: Wie soll man eigentlich die Aussagen des Glaubensbekenntnisses anders darstellen als abstrakt? Jede Kunst, jede Musik ohnehin, aber auch jede bildende Kunst ist abstrakt. Sie abstrahiert von der gesehenen Wirklichkeit. Selbst beim realistischsten Bild, selbst bei der Fotografie, findet ein Vorgang der Abstraktion statt. Der Künstler oder die Künstlerin legt nämlich das Motiv, den Bildausschnitt und die Perspektive fest. Damit abstrahiert er oder sie von der unendlichen Vielzahl möglicher Motive, Ausschnitte und Perspektiven. Dasselbe gilt für die Wahl des Malgrunds, der Farben, des Films, der Abzugstechnik usw. Die Frage ist nicht: gegenständlich oder abstrakt? Die Frage ist: Welchen Grad von Abstraktion wählt ein Künstler?
Lassen wir uns auf ein Gedankenexperiment ein! Stellen wir uns einmal vor, wie man das Thema, die Aussagen des Glaubensbekenntnisses, weniger abstrakt hätte behandeln können. Wir müssen uns da nicht auf unsere Phantasie verlassen, sondern können aus dem reichen Schatz der Kunstgeschichte schöpfen.
Ein Bild hat den Titel: „et incarnatus est“ – „und hat Fleisch angenommen“. Das bezieht sich auf das Geheimnis der Fleischschwerdung des göttlichen Wortes in Jesus Christus, symbolisiert durch die Aussage von der Jungfrauengeburt. Wie hat man das gegenständlich dargestellt? Es gibt Bilder, da steht der Erzengel Gabriel vor der knienden Maria, der er die Botschaft von ihrer Schwangerschaft und der bevorstehenden Geburt Jesu überbringt. Und wie auf einer unendlich langen Rutschbahn, einem Strahl, der von Gott ausgeht und irgend wo am Körper Marias endet, rutscht ein Mini-Jesus herab, von Gott kommend, in Maria eingehend, um dann neun Monate später als Menschenbaby aus ihr geboren zu werden. Putzig sieht das aus. Ist das eine realistische Darstellung?
Ein weiteres Bild heißt: „crucifixus etiam pro nobis“ – „er wurde für uns gekreuzigt“. Darstellungen der Kreuzigung Jesu haben wir tausendfach gesehen. Und jede abstrahiert auf ihre Weise von der Darstellung einer römischen Hinrichtung, der ein angeblicher politischer Aufrührer zum Opfer fällt. Auf romanischen Kreuzigungsdarstellungen erscheint Christus als Herrscher, mit wie zum Segen ausgebreiteten Armen, weit geöffneten Augen und einer Krone auf dem Kopf; der Barlachsche Christus in der Marburger Elisabethkirche ist ein moderner Nachfahr dieses Typs. Der spätgotische Gekreuzigte, z.B. vom Isenheimer Altar, verkörpert dagegen alles Leid und alle Qual, die Menschen tragen müssen. Und dann der edle, klassizistische Männerkörper, der mit zum Himmel gekehrten Augen bei Guido Reni und anderen Barockkünstlern am Kreuz mehr schwebt als hängt. Drei Kreuzigungsdarstellungen – drei sehr unterschiedliche Abstraktionen. Auf diesem Weg geht Harald Häuser weiter.
Und schließlich das Bild „et ascendit in coelum“ – „und aufgefahren in den Himmel“. Dazu fallen Kennern der Kunstgeschichte Darstellungen der Himmelfahrt Jesu ein, auf denen dieser wie von einer Rakete angetrieben himmelwärts eine Wolkenschicht durchstößt und der zurückbleibenden Jüngerschaft seinen Segen zukommen lässt. Ist das eine realistische Darstellung der Himmelfahrt?
Harald Häuser vermeidet solchen „Realismus“, der in Wahrheit sehr unrealistisch ist, und wählt die abstrakte Darstellung. Wie betrachtet man solche Bilder? Häusers Malerkollege Wolf Pehlke, mit dem er u.a. in der Künstlergruppe „Kriegfried“ zusammengewirkt hat, spricht angesichts der Gemälde Häusers vom „Bild als Kunst des Betrachtens“ – so nachzulesen auf der bereits erwähnten Homepage Harald Häusers. Kunst entsteht im Auge des Betrachters, Musik entsteht im Ohr der Hörerin. Der Sinn eines Bildes ebenso wie der eines musikalischen Werkes, ihre Aussage, ihr emotionaler Gehalt werden uns nicht serviert, sodass wir sie nur zu konsumieren bräuchten. Wir müssen Sinn, Aussage und Gehalt selbst herstellen. Herstellen heißt nicht, dass wir sie frei aus uns heraus produzierten. Wir haben ja das Bild oder die Musik als Ausgangspunkt und bleibendes Gegenüber. Aber Sinn, Aussage und Gehalt gewinnen wir nur im Zusammenspiel zwischen dem Bild des Künstlers und uns als Betrachterinnen und Betrachtern, zwischen der Musik und uns als denjenigen, die sie hören.
Dabei legt Häusers Ausstellung eine interessante Spur, wie wir seine Bilder zusammen mit der Aufführung der h-moll-Messe verstehen können. Die Ausstellung hat den Titel: „Himmelsrand. Klänge des Lichts“. Akustische und optische Phänomene kommen zusammen: Klänge hören wir, Licht sehen wir. Hier aber nun „Klänge des Lichts“. Wir sollen zu Synästhetikern werden; das sind Menschen, die beim Sehen von Bildern bestimmte Klänge hören und beim Hören von Klängen bestimmte Bilder sehen. Synästhetische Ausdrücke verwenden wir im Übrigen öfter, wenn wir z.B. von den Klangfarben eines Orchesters sprechen oder von der Rhythmik und Dynamik eines Bildes. Der Eintrag zur h-moll-Messe im „Harenberg Chormusikführer“ bedient sich genau dieser synästhetischen Sprache; er spricht von „Klangfarben“, von „glänzenden instrumentalen Farben“ und von einem „Klangbild“, er findet „reiche Ornamentik und zierliches Filigran“ und weist darauf hin, Bachs Komposition des Sanctus lasse „das Wogen der Klänge und geflügelten Engel plastisch“ werden. All das sind Vergleiche, die aus der optischen Wahrnehmung und bildenden Kunst genommen sind.
Über die Kunst des Musikhörens und der Betrachtung von Bildern lässt sich nicht allgemein dozieren. In einem englischen Sprichwort heißt es: „The proof of the pudding is in the eating.“ Darüber, ob ein Pudding noch genießbar ist und wie er schmeckt, kann ich nicht dozieren. Ich finde es heraus, wenn ich den Pudding esse. Deshalb muss man die h-moll-Messer hören und auf sich wirken lassen. Ebenso muss man sich den Bildern Harald Häusers aussetzen, sie ruhig betrachten und dem nachspüren, was sie in uns auslösen. Dabei ist jede Deutung subjektiv. Jeder und jede sind eingeladen und aufgefordert, sich selbst in Beziehung zu den Bildern zu setzen und die eigene Kunst des Betrachtens zu entwickeln. Was ich selbst vor einem der gezeigten Bilder empfinde, will ich am Schluss versuchen zu vermitteln.
Auf das Himmelfahrtsbild „et ascendit in coelum“ – „und aufgefahren in den Himmel“ wurde oben schon hingewiesen. Wir sehen also keinen Jesus, der wie raketengetrieben in den Himmel fährt. Wir sehen das bunteste und kleinteiligste Bild der Ausstellung. Anders als bei anderen der ausgestellten Gemälde heben sich keine einzelnen großen Strukturen oder Zeichen ab. Es werden auch keine Farbflächen kontrastierend gegenübergestellt. Alles ist mit allem verbunden. Und doch sind Farben und Formen nicht gleichmäßig über die Leinwand verteilt, sondern bilden eine Gesamtstruktur. Das Blau fängt unten in der Mitte an und wird sodann senkrecht hochgeschleudert, um sich dann nach links hin auszubreiten und ein Stück weit wieder nach unten zu sinken. Als ich das Bild zusammen mit seinem Titel sah, hatte ich sofort den Gedanken: So ist Himmelfahrt: ein Wirbel, in den wir mitgerissen werden. Christus fährt auf zum Himmel, er reißt uns mit. Wir werden hochgehoben. Vielleicht sinken wir auch wieder ein Stück hinab. Selbst das Blau, das links unten ankommt, drängt wieder zur Mitte und wird erneut nach oben gerissen. So verstehe ich glaubende Existenz angesichts der Himmelfahrt Christi. So lehrt mich das Bild, sie zu verstehen.
Und dann besinne ich mich darauf, wie Bach das „et ascendit in coelum“ – „und aufgefahren in den Himmel“ in der h-moll-Messe in Töne gesetzt hat. Das Stück davor endet mit den Worten „und ist begraben worden“, in langen Notenwerten und extrem tiefer Tonlage. Dann kommt die Explosion mit der Doppelzeile „ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel“. In Quartsprüngen und Triolen drücken sich Jubel und Freude aus, die Stimmen werden in sängerisch herausfordernde Höhen getrieben. Das Bild des Wirbels, in dem wir mitgerissen werden,  das Gefühl, mit dem auffahrenden Christus hochgehoben zu werden, das mich vor Häusers Bild befiel, kehrt beim Hören dieser Musik wieder.
Walter Blankenburg hatte, wie angeführt, die h-moll-Messe als „Gesamtkunstwerk“ bezeichnet. Das trifft insofern nur bedingt zu, als im Gesamtkunstwerk nicht nur die Musik, sondern auch der optische Eindruck wichtig ist; bei der Oper sind das Bühnenbild, Kostüme und Beleuchtung. Im eigentlichen Sinn zum Gesamtkunstwerk wird die h-moll-Messe erst bei ihrer Aufführung in der Lutherischen Pfarrkirche. Zum Kirchenraum als optischem Eindruck kommen die Bilder Harald Häusers hinzu, die den Text der Messe auslegen. Musik und Bilder interpretieren sich gegenseitig.
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